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Was ist besser: Vollgurt oder Sitzgurt?

Einige Geocacher und Seilkletterer kaufen sich einen teuren Vollgurt. Schließlich ist der ja sicherer und komfortabler. Wirklich?

Bei Industriekletterern stellt sich diese Frage nicht, denn Vollgurte sind Pflicht. Da man mit unabhängigem zweiten Seilsystemen arbeitet, muss dieses in eine Vollgurt-Auffangöse eingehängt werden.
Woanders sind Vollgurte wenig verbreitet: Sportkletterer verwenden nur Sitzgurte, ebenso Baumpfleger und Speläologen (Höhlengänger). Für Spezialkräfte gilt das Gleiche – Vollgurte würden ihre Bewegungsfreiheit einschränken. Auch im Alpinismus und sogar beim Klettersteiggehen findet man nur noch selten Vollgurte.
Die Uni Innsbruck hat 113 Stürze in Sitz- und Vollgurte bis über 20m Fallhöhe untersucht. Ergebnis: Anzahl und Schwere der Verletzungen unterschieden sich nicht. Bislang galten als Hauptverletzung Schäden im Lendenwirbelbereich – die Innsbrucker fanden eher solche in den Extremitäten sowie Schulter und Hüfte. Die schwersten Verletzungen waren an Kopf und Hals. Es gab keine Beweise für eine Lendenwirbel-Überstreckung. Sicherheitstechnisch sind beide Gurttypen also ähnlich.

Ein Vollgurt hat vorne zwei übereinanderliegende Auffangösen. In der oberen (und nur dort) hängt man aufrechter. In dieser Lage ist auch Retten und Ansprache einfacher. Nachteil: die Gefahr eines Hängetraumas ist höher. Der DAV Sicherheitskreis meint, dass Hängetraumas in einem Sitzgurt dagegen geringer sind – man hängt waagrechter. Diese Lage zu halten ist insbesondere mit Rucksack/Werkzeug schwieriger. Laut Rettungsärzten wachen ohnmächtige Verletzte in einem Sitzgurt erst am Boden wieder auf.

Ist ein Vollgurt komfortabler?
Es gibt zwei Arten von Vollgurten: Auffanggurte aus reinem Gurtbandmaterial ohne Polster, sowie Arbeits-/Positionierungsgurte mit Polsterung. Erstere können sehr preiswert sein, sind aber für´s aktive Seilklettern ungeeignet.
Erst mit Polster wird es bequem. Dabei gilt: die Größe der Auflagen ist wichtiger als die Gurtkonstruktion (Sitz- oder Vollgurt). Solange du in der zentralen Halteöse festgemacht bist, sind (gepolsterte) Schultergurte bei Vollgurten nahezu wirkungslos und schlabbern an dir herum. Erst das Höngen in einer Bruststeigklemme erhöht durch die höhere Position den Komfort, auch bei Sitzgurten.
Bei Vollgurten ist eine ab Werk eingebaute Bruststeigklemme (Petzl) nicht so flexibel wie eine nachrüstbare (andere Hersteller).

Vollgurte haben ja noch die obere Auffangöse. Das Hängen darin ist komfortabel. Zum Klettern eignet sie sich wenig: dein Abseilgerät hängt in Kopfhöhe und du hast winzigen „Hub“ beim Aufstieg. Auch fördert ein längeres derartiges Hängen ein Hängetrauma. Laut Norm dient diese obere Öse auch nur als Auffangöse.

Kann man aus einem Sitzgurt fallen?
Nach über 30 Jahren Unfallforschung sind keine nennenswerten Fälle bekannt, selbst nach hunderttausenden Stürzen (auch komplizierte mit Überschlägen). Nur bei Kindern ist die Gefahr wegen schmaleren Hüften größer.

Fazit
Vollgurte bringen gegenüber Sitzgurten kaum Komfortgewinn. In vielen Bereichen, insbesondere bei Stürzen, sind beide ebenbürtig. Vollgurte sind schwerer und teurer. Viele fühlen sich in Vollgurten trotzdem „irgendwie“ sicherer. Dadurch klettert man ggf. entspannter, macht weniger unüberlegte Handlungen. Psychologisch können Vollgurte also punkten. Die Welt-Topliga der Freizeit-Seilkletterer ist allerdings mit Sitzgurten unterwegs, da sie ihrem Material voll vertrauen und Gewicht, Packmaß und Bewegungsfreiheit wichtiger sind.